10.08.23: Land Of Hope And Dreams

Tag 0: Fahrt nach León zum Start meines Caminos

Ich fahre mit einem öffentlichen Bus schon um acht Uhr morgens zum Start meines Jakobsweges nach León. Der Bus benötigt bis dahin sechs Stunden, denn er hält zwischendurch mehrmals an. Neben mir nimmt ein Mann Platz, der nicht bemerkt, dass ich auf seinem Fensterplatz sitze. Vielleicht ist es ihm auch egal. Er begrüßt mich, aber ansonsten sehen wir uns Filme an, denn Bus hat an jedem Sitz einen Bildschirm. Um Punkt zwölf kramt Fernando eine Dose Estrella aus seiner Tasche, er erklärt mir, dass dieses Bier sehr lecker ist und dass er auf den Busfahrten immer Bier mitnimmt, da es auch an den Haltestellen keines gibt. Ich grinse und schwupps habe ich auch eine Dose Estrella auf meinem Platz. Wir trinken also zusammen und Fernando erzählt mir von seiner Familie und dass er mal in Kiel stationiert war bei der Marine. Außer „Guten Tag“ spricht er aber nur Spanisch. 

Ich krame alles Spanische aus meinem Gehirn heraus, was geht, zeige ihm Fotos von meiner Familie, erzähle etwas über mich und dass ich den Jakobsweg laufen möchte. Er kennt alle Orte, die auf meinem Weg liegen und sagt, dass die ersten beiden Etappen ziemlich flach sind und es dann aber steiler und kurviger wird. Ich sehe mir die Landschaft an, durch die ich ab morgen wandern werde. Fernando lacht viel und trinkt ein zweites und drittes Döschen. Es macht viel Spaß mit ihm und ich wünschte, die Fahrt würde noch länger dauern, denn wenn ich Spanisch sprechen muss, dann geht es viel besser als wenn ich auf Englisch ausweichen kann. Beim Ankommen in León verabschiedet er sich sehr höflich und sagt, dass ihm die Fahrt mit mir sehr viel Freude bereitet hat. Yo también! 

Dann laufe ich zum Covent Garden Hostel, in dem ich ein Viererzimmer vorgebucht habe. An der Rezeption sitzt Juan, der mich mit Handschlag begrüßt und total freundlich ist. Er trägt meinen Ruxsack ins Zimmer und läuft mit mit durch das gemütliche Hostel, das eine große Küche und ein paar Aufenthaltsräume hat. Mein Zimmer hat sogar einen kleinen Balkon von dem aus ich das Museo Casa Botines, das Gaudimuseum, sehen kann. In der Küche treffe ich ein argentinisches Paar und wir tauschen uns über unsere Reisen in Südamerika und Europa aus. Anschließend sehe ich mich in León um. León hat eine sehr beeindruckende Kathedrale, die mir von allen bisher in Nordspanien gesehenen am besten gefällt. Die Altstadt ist urig und die vielen Tapasbars laden zum Verweilen ein.

Ich gehe zurück zum Hostel, denn ich habe eine Weinflasche mitgebracht, die ich irgendwo in Spanien gekauft habe, weil auf dem Etikett Palacio de Leon steht. Die kann ich doch heute zur Feier des Tages mal öffnen. Ich sitze im Wohnzimmer und frage mich, wo denn wohl dieser Palast steht. Bevor ich im Internet nachsehe, sehe ich aus dem Fenster und das Gebäude gegenüber sieht doch tatsächlich so aus wie auf der Flasche. Unfassbar! Das ist ja mal ein passender Zufall. Da muss ich doch gleich mal ein schönes Foto von dem Wein vorm Palast machen.

Ich lade Juan zu einem Gläschen Wein ein und er erzählt mir, dass er ein alter Caminohase ist. Er ist den Camino auf verschiedenen Wegen schon neunzehn Mal gelaufen. Die längste Etappe mit 3500 Kilometern ging in vier Monaten von Frankreich bis Portugal. Ich staune.

Ich laufe ab morgen den Camino Francés. Dies ist der Weg, der von den meisten gelaufen wird, es sollen ca. 60% Spanier unterwegs sein und im August soll er auch recht voll sein, so dass ich meine Etappen vorher geplant habe und alle Unterkünfte vorgebucht habe. Das macht mich auf der einen Seite unflexibel, was die Streckenabschnitte angeht, zum anderen kann ich mir aber einfach Zeit lassen, vielleicht mal eine Pause mehr einlegen oder die Mittagspause ausgiebiger gestalten. Denn alle, die mich währenddessen überholen, können mir egal sein, weil ich am Ziel nicht erst auf die Suche nach einem freien Bett gehen muss. So finde ich das entspannter.

Außerdem suche ich auf dem Camino auch keine Einsamkeit, weshalb ich auch diesen Weg gewählt habe. Ich muss nicht zu mir finden und ich laufe nicht aus religiösen Gründen. Ich wandere auch nicht besonders gerne, weil mir das eigentlich zu langsam ist. Lieber nehme ich das Rad. Nein, ich suche vielmehr die Herausforderung, über zwei Wochen täglich eine vermutlich sehr anstrengende Etappe zu schaffen und trotzdem am näxten Tag weiterzulaufen. Ich bin gespannt auf die Begegnungen mit anderen Pilgern und die Gründe, die sie bewogen haben, diesen Weg zu gehen. Wenn es dort so offen und freundlich zugeht wie im Bus oder hier im Hostel, dann wird es sicher toll.

Ich freue mich sehr, dass es morgen los geht!

11.08.23: Born To Run

Tag 1: Von León nach Hospital de Orbigó (32,5 km)

Es geht früh los. Aufstehen um sechs, Losgehen um sieben, denn vorher ist es nicht hell. Es soll heute 33 Grad Celsius werden und ich möchte möglichst wenig in der Hitze laufen. Der erste Blick auf die Straßen von León zeigt, dass die Sonne noch nicht ganz aufgegangen ist. Ich gehe ziemlich schnell, wie immer. Nur der Ruxsack und meine kleine Frühstückstasche, die zusammen etwa neun Kilogramm wiegen, hindern mich daran, wirklich schnell zu gehen. Aber ich gehe so schnell es der Ruxsack zulässt und das sind sechs Kilometer in der ersten Stunde. Ich überhole einige Peregrino , die es langsamer angehen lassen.

Dann treffe ich einen aus der Schweiz ausgewanderten Kalifornier und eine Niederländerin. Die gehen etwas langsamer, aber sie machen Fotos von mir und so schließe ich mich ihnen eine Zeit lang an. Irgendwann machen sie eine Pause, ich gehe weiter, da ich mich noch fitt fühle. Immer mal wieder treffe ich andere Pilger und wir tauschen uns aus, bis jeder in seinem Tempo weitergeht. 

Unterwegs gibt es immer mal wieder Stände mit Getränken, Früchten und sogar Keksen, die zum Teil kostenlos an Pilger abgegeben werden. Alle sind total freundlich, ob Pilger oder andere Fußgänger oder der Apfelpflücker in seinem Garten, der seine Äpfel verschenkt. Zwischendurch kann ich an kleinen Biergärten anhalten und eine oder auch zwei eiskalte Gläser Cola trinken. Bis Kilometer 24 geht es mir gut, der Ruxsack drückt zwar und die Füße tun weh, aber es ist aushaltbar. Außerdem sind es ja nur noch acht Kilometer. 

Dann folgt allerdings ein schreckliches Stück Wegstrecke. Es geht an einer Landstraße entlang und ich muss durch die Sonne laufen, die diesen Abschnitt der Welt mittlerweile auf 33 Grad erhitzt. Es gibt keinen Schatten, keine Bank und mein Wasser ist aufgebraucht. Jetzt wird es wirklich hart mit dem Weiterlaufen. Ab und zu halte ich an und stütze meine Hände auf den Knien ab, um meinen Rücken etwas zu entlasten. Irgendwann kommt endlich die erlösende Kurve, die mich nach Hospital de Orbigó bringt. Blöd nur, dass ich warten muss, bis die Schafherde wieder Platz zum Weiterwandern schafft. Ich bin heilfroh als ich endlich das Ortsschild sehe. Nur noch eineinhalb Kilometer. Trotzdem will ich bei der näxten Bank im Schatten anhalten und den Ruxsack vom Rücken nehmen. Die Bank kommt nicht, aber dafür 650 Meter vorm Ziel ein kleines Restaurant, in das ich schnell springe und noch einmal eine kalte Cola und einen frischgepressten Orangensaft trinke. Endlich kann ich mal wieder den Ruxsack absetzen und die Schuhe ausziehen. 

Anschließend geht es in die Albergue San Miguel. Geschafft, 32,5 Kilometer liegen hinter mir. Jetzt freue ich mich über eine Dusche und Füßehochlegen. Der Herbergsvater heißt mich willkommen und erzählt mir, dass er seit über zwanzig Jahren nur Pilger aufnimmt. Er führt mich durch die sehr schöne Herberge, an deren Wänden viele Bilder hängen, die alle von Pilgern gemalt wurden. Ich darf auch eines malen, wenn ich möchte. Die Staffelei und Farben und Leinwände stehen bereit. Ich verzichte aufs Malen und lege mich erst mal aufs Bett. Ich schlafe heute in einem Zimmer mit 14 Betten für Männer und Frauen. Die Duschen sind allerdings getrennt.

Als ich die Treppe heruntergehe, um fürs Abendessen einzukaufen, sehe ich Remy aus Kalifornien und die Niederländerin Géonne wieder. Sie checken nun auch in diesem Hostel ein. Die wiederum erkennen, neben mir, auch andere Pilger wieder, da sie bereits seit über zwei Wochen unterwegs sind. Beim Abendessen in der Küche kocht zwar jeder für sich, aber wir sitzen dann mit zehn Leuten aus USA, Belgien und den Niederlanden am großen Küchentisch und tauschen Erlebnisse, Reiseziele und alle möglichen Dinge aus. Es ist ein bisschen wie in einer großen Familie zusammenzusitzen. Dass es schon am ersten Tag so schön wird, hatte ich nicht zu hoffen gewagt.

12.08.23: I‘m On Fire

Tag 2: Von Hospital de Orbigó nach Astorga (17,3 km)

Heute Nacht ist es grauenvoll. Ich spüre die ganze Zeit ALLE meine Knochen. die ich am Leib habe. Es gibt keine gute Liegeposition und ich wache immer auf bei dem Versuch, eine bequemere Position zu finden. Als ich vom Wecker eines Schlafnachbarn wach werde, bemerke ich, dass ich wohl doch irgendwann eingeschlafen bin. Die Schmerzen haben sich etwas beruhigt und die Füße fühlen sich ganz gut an. Ich entdecke eine Blase unterm Fuß, die ich mit einem Blasenpflaster behandele. Um halb acht geht es auf die näxte Etappe. Heute trage ich meinen Wanderrock, da die Etappe nicht so lang ist und meine Beine in der Sonne daher nicht verbrennen können. Außerdem wollte ich gestern nicht mehr waschen.

Die Sonne ist noch nicht ganz aufgegangen und es geht erst einmal durch Felder und kleine Orte. In einer Garage sitzt ein Mann der laut ruft, dass man einen Stempel für den Pilgerpass bei ihm bekommen kann. Ich gehe zu ihm und lasse mir einen Stempel geben. Wenn man täglich einen offiziellen Stempel vom Camino in seinem Pilgerpass sammelt, dann bekommt man in Santiago eine Pilgerurkunde ausgestellt, die Compostela. Nebenbei hat er so allerlei anzubieten in seiner Garage. Von Kaffee über Müsliriegel und Obst bis hin zu Muscheln und Wanderstöcken. Ich habe allerdings keinen Bedarf, mein Ruxsack ist schon viel zu schwer.

Es geht heute über lange Strecken über steinigen Lehmboden, der rot ist wie der Boden in Australien. Nicht gut für meine Blase unterm Fuß, dafür sehr schön fürs Auge. Hinter der näxten Kurve sehe ich einen Schatten hinter mir und drehe mich um. Der gehört passenderweise zu einer Australierin, die in Melbourne wohnt. Sie erklärt mir, dass, wenn der Schatten immer kleiner wird und dann nicht mehr vor einem, sondern hinter einem liegt, auch alles Böse und alle Probleme hinter einem liegen. Darüber will sie ein Buch schreiben. Wird sicher ein Bestseller! Ich dachte immer, dass die Schattenbildung mit dem Stand der Sonne zu tun hat. Egal, sie ist ansonsten sehr nett und wir laufen eine Weile zusammen.

Das Wetter ist heute wirklich optimal zum Wandern. Es ist nicht zu heiß, die Wege sind schön und man trifft ab und zu andere Pilger. Die kommen aus Italien, USA, Australien, Spanien, Belgien, Schweden oder sonst woher. Caminosprache ist daher Englisch. Oben am Berg befindet sich plötzlich ein schönes Lager. Da stehen Betten, es hängt eine Schaukel da und es gibt gemütliche Sitzgelegenheiten. Außerdem steht da ein großer Tisch mit Obst und Nüssen und es gibt Getränke. Alle Pilger dürfen sich gegen eine kleine Spende bedienen. Ich bin froh, wenn mein kleiner Fressbeutel etwas leichter wird, aber ich spende gerne für die schöne Sitzgelegenheit und treffe auch noch Remy und Géonne wieder. So allmählich finde ich mich ein in der Pilgergemeinde und es macht viel Spaß auf dem Camino, auch wenn die Knochen oder Füße schmerzen.

Es geht ab jetzt zumeist bergab bis auf den letzten Anstieg rauf nach Astorga. Mein Hostel wird erst um dreizehn Uhr geöffnet, so dass ich mir am Marktplatz ein Kaltgetränk gönne und die Schuhe ausziehe. Remy und Géonne sitzen bereits da und dann kommt Sabrina aus Cincinnati dazu, mit der ich mich gestern in der Hostelküche lange unterhalten habe. Die drei übernachten leider in einem anderen Hostel, aber wir schmieden schon Pläne, ob wir uns nicht am 23. oder 24. August an der Kathedrale in Santiago treffen können. Wir haben zwar andere Streckenabschnitte geplant, aber vielleicht klappt ja ein Wiedersehen in Santiago.

Dann checke ich in meinem Hostel ein, wasche Wäsche und lasse sie in der Sonne trocknen. Ein Gang durch Astorga darf nicht fehlen. Also mache ich mich wieder auf die Beine und laufe durch die Stadt bis zur sehr schönen Kathedrale. Da bekomme ich auch noch einen Pilgerstempel in meinen Pilgerpass.

13.08.23: Badlands

Tag 3: Von Astoria nach Foncebadón (25,4 km)

Ich starte wieder sehr früh, da diese Etappe vermutlich sehr schwierig wird. Das Höhenprofil sagt eine lange Steigung über 550 Höhenmeter voraus. Zumindest die Kilometerzahl scheint machbar zu sein. Schon nach den ersten beiden Kilometern liegt auf der linken Seite eine kleine Kapelle, die geöffnet ist und in der Licht brennt. Ich wechsle die Straßenseite und bekomme einen schönen Stempel in meinen Pilgerpass.

Wenige Kilometer weiter sitzt jemand an einem kleinen Tisch, der besondere Stempel in den Pass setzt. Es sind echte Siegel und man kann aus verschiedenen Motiven eines aussuchen. Sabrina entdeckt mich am Stand und freut sich, mich wiederzusehen. Géonne überlegt noch, welches Motiv sie wählen soll. Der Mann siegelt nicht nur das ausgewählte Motiv, sondern er bemalt das Siegel auch noch. Eine kleine Spendenbox steht auf dem Tisch und jeder wirft etwas hinein. Das alles dauert nicht lange, denn wir möchten ja gerne weiterwandern.

Ich warte schon auf den heftigen Anstieg, der aber bisher noch ausbleibt. Es geht auf sandigen und steinigen Pfaden moderat bergauf. Manchmal geht es an einem Wald entlang oder durch Dörfer mit urigen kleinen Steinhäusern. Manchmal gibt es Biergärten, in denen man ein Kaltgetränk bekommt. Kurz vor dem angesagten Anstieg bestelle ich zwei eiskalte Coke Zero, damit bin ich für den Berg gut gewappnet.

Dann wird es immer steiler, auf dem Boden befinden sich viele Steine und das Wandern ist echt beschwerlich. Die Füße tun sehr weh, die Blase unterm Fuß erst recht. Der Rücken möchte den Ruxsack nicht mehr tragen und die Hüften auch nicht. Ich laufe deutlich langsamer als vorher und sehe ständig auf meine App, die mir sagt, wie weit es noch ist. Es sind noch knapp fünf Kilometer. Das hört sich nicht so schlimm an, aber ich laufe bereis seit vier Stunden und die Sonne brennt schon ganz ordentlich.

Jetzt wird es noch härter. Der Weg wird steiler und die Steine werden nun zu Geröll. Ich muss super aufpassen, wohin ich trete, damit ich nicht umknicke. Ich weiß gar nicht, was mich am meisten stört: Die Sonne, die Schmerzen an den Füßen, dem Rücken, der Hüfte, der steile Weg oder das Geröll. Alles zusammen ist jedenfalls brutal. Es gibt sogar ein Pilgergrab am Rand der Geröllpiste. Kein Wunder, dass diesen Weg nicht alle überleben. Ich schleppe mich langsam bergaufwärts, einige andere Pilger überholen mich, aber sie motivieren mich auch nicht mehr, zügiger zu laufen. Endlich sehe ein paar Häuser, die zu Foncebadón gehören müssen, in dem meine Herberge steht. Nun bin ich ja gleich da. Es zieht sich trotzdem noch hin, weil dieses Dorf am Hang liegt und die Herberge natürlich ganz schön weit oben liegt.

Ich schaffe es zur Albergue El Trasgu, die gleichzeitig auch Restaurant und Supermarkt ist. Vor dem Einchecken bestelle ich eine eiskalte Cola und dann gehe ich in mein Zimmer und lege die Füße hoch. Nach zwei Stunden schmerzen die Fußsohlen immer noch, aber es wird langsam besser. Nach der Dusche sehe ich mal, wer alles in dem Dorf anzutreffen ist. Ich erkenne viele Pilger und setze mich nach draußen zu einem Trio, das aus zwei Italienern und einem Spanier besteht. Carlos spricht nur Spanisch, Antonello Spanisch und Italienisch und Diego Italienisch und etwas Spanisch und Englisch. Ich spendiere eine Runde Bier und wir unterhalten uns lustig in einem Spanisch-Englisch-Italienisch-Kauderwelsch. Carlos ist bereits in Saint-Jean-Pied-de-Port gestartet. Das liegt in Frankreich und ab da sind es rund achthundert Kilometer bis Santiago. Ich frage ihn, ob das sein erstes Mal ist und das bestätigt er. Es ist zugleich auch sein letztes Mal, denn er will den Weg nie wieder laufen. Wir lachen alle über seine extreme Haltung, denn er hat bereits fünfhundertfünfzig Kilometer geschafft und läuft morgen weiter.

An der Rezeption bekomme ich zwei Stempel für den Pilgerpass, einer ist bereits für morgen, wenn ich ganz oben auf dem Berg am Cruz de Fierro den Bergkamm überwinde. 

14.08.23: Only The Strong Survive

Tag 4: Von Foncebadón nach Ponferrada (26,3 km)

Um kurz vor sieben laufe ich den Berg hoch zum Cruz de Fierro. Die Sonne geht gerade erst auf, aber es laufen schon einige andere Pilger vor mir her. Ich habe den Ruxsack heute besonders sorgfältig gepackt und schwere Dinge wie die Technik oder meinen Kulturbeutel nach unten verlegt. Das Höhenprofil weist einen krassen Abstieg über 1100 Meter, auf über zehn Kilometern, auf. Dazu kommt, über lange Phasen, loser und, wie immer, steiniger Untergrund. Ich habe großen Respekt vor diesem Abschnitt.

Das Eisenkreuz oben am Berg ist umgeben von einem riesigen Steinhaufen, auf dem Zitate von anderen Pilgern stehen. Hier kann man einen von zu Hause mitgebrachten und beschrifteten Stein ablegen und damit alles Negative hinter sich lassen. Ich bin froh, dass ich zusätzlich zum schweren Ruxsack nicht noch einen Stein mitgeschleppt habe. Daher mache ich nur ein Foto und gehe weiter. 

Noch ist der Weg ganz angenehm, es geht ein bisschen bergauf, die losen Steine sind nicht schön, aber ich habe mich ja mittlerweile schon daran gewöhnt, dass der Untergrund für die Füße meistens schmerzhaft ist. Nach ungefähr acht Kilometern geht es dann ordentlich bergab. Erst geht es über Felsen, die aus dem Boden ragen und losen, spitzen Steinen. Dann kommt ein Mix aus Felsen und Geröll und dann wird es immer schlimmer. Der Weg ist zusätzlich total uneben und es geht steil bergab. 

Manchmal ist in der Mitte des schmalen Weges eine große Furche. Jeden Tritt muss ich wohl bedacht setzen, damit ich nicht umknicke oder hinfalle. Das Ansehen der Landschaft beschränkt sich auf die Stopps, die ich für ein Foto mache.

Ich komme durch ein Bergdorf, dort liegt der Hund begraben, nur ein Esel steht irgendwo rum. Und ein paar ältere Dorfbewohner sitzen auf einer Bank. In der kleinen Kapelle bekomme ich einen Pilgerstempel, aber ein Getränk gibt es hier nirgendwo zu kaufen. Ich setze mich auf einen der zahlreich vorhandenen Steine und mache eine kurze Pause. In meinem kleinen Fressbeutel ist noch ein Müsliriegel und ein Multivitaminsaft. Die Italiener von gestern gehen an mir vorbei und fragen wie es mir geht. Nach einem muy bien ziehen sie weiter.

Ich laufe ohne Wanderstöcke, weil ich sie auf den meisten Etappen nicht benötige. Heute wären sie allerdings Gold wert. Als es so steil wird, dass ich mich wie ein Krebs seitwärts bewege, um nicht auszurutschen, bietet mir eine Pilgerin sogar ihren zweiten Stock an. Aber das würde bedeuten, dass ich dann ihr Tempo laufen müsste oder wir irgendeine Verabredung zur Rückgabe treffen müssten. Also winke ich dankbar ab, reiße aber von einem Strauch einen Stock ab, der allerdings nicht richtig stabil ist. Aber es ist besser als nichts, zumindest für diesen grauenvollen Abschnitt. Ich bin heilfroh, dass es nicht regnet und kann mir gar nicht vorstellen, wie man dann heile hier runterkommen würde.

Ich wundere mich auch, dass hier offenbar wenig passiert. Eigentlich müssten hier dann und wann mal Pilger mit Beinbrüchen oder Bänderrissen am Wegesrand liegen und auf Rettung warten. Aber ich habe niemanden irgendwo liegen gesehen.

Irgendwann ist dieser gruselige Abschnitt über mehr als zehn Kilometer überstanden und ich komme in Molinaseca an. Dort gibt es eine kleine Pausenbar, in der ich mir, wie üblich, zwei eiskalte Cola Zero bestelle. Das, was davon übrig bleibt, kommt, zusammen mit dem Eis, in meine Trinkflasche und rettet mich über das restliche Teilstück der Strecke. Rixa ruft mich an und fragt, wie es mir geht. Ich erzähle ihr von dieser krassen Etappe und sie lacht, weil sie das ja bereits vor einem Monat auf ihrem Camino selbst erleben durfte. Nun sind es „nur noch“ sieben Kilometer bis zur näxten Unterkunft, der Albergue Giana in Ponferrada. 

Nach fast zwanzig Kilometern dieser heftigen Bergetappe hört sich das total einfach an, aber es zieht sich wie ein Kaugummi und es geht wieder durch die Mittagssonne ohne Schatten über Asphalt an der Straße entlang und die Füße tun höllisch weh. Es dauert fast zwei Stunden, bis ich meine Herberge ziemlich erschöpft erreiche. Natürlich treffe ich dort bekannte Gesichter in meinem Achterzimmer, das ist schon mal gut. Es gibt hier wirklich viele Herbergen, aber irgendwie trifft man immer wieder auf alte Caminobekannte.

Nach dem Ausruhen geht es, wie immer, in die Stadt und ich kaufe etwas zum Abendessen und Proviant für den näxten Tag. In Ponferrada gibt es eine alte Burg, die ich mir nur kurz ansehe, denn die Blase unterm Fuß möchte lieber nach Hause. Also gehe ich nur noch am Supermarkt vorbei und esse dann auf dem Bett im Liegen, die Füße hochgestreckt.

15.08.23: Human Touch

Tag 5: Von Ponferrada nach Villafranca del Bierzo (24+2 km)

Heute gehe ich noch etwas früher los. Um halb sieben bin ich schon auf den dunklen Straßen in Foncebadón unterwegs und suche die Muschel. Irgendwann taucht sie wieder auf und ich folge ihr. Nach einer halben Stunde treffe ich Luca und Agnese aus Italien. Die beiden sind verheiratet und leben in der Nähe von Florenz. Es passt mit der Geschwindigkeit und wir gehen zweieinhalb Stunden zusammen und tauschen uns aus. 

Diese Etappe ist wunderbar zu laufen. Keine besonders schwierigen Steigungen und der Bodenbelag ist aus Asphalt oder auch Lehm. Da wir uns gut unterhalten, verfliegt die Zeit schnell und der Kilometerzähler rast förmlich. Im Wald sitzt plötzlich ein Mann, der aus Holz sehr schöne Muscheln schnitzt. Ich finde sie alle klasse und kaufe ihm eine ab. Dabei stellt sich heraus, dass er Deutscher ist und aus Menden kommt.

In einer kleinen Kapelle holen wir uns den ersten Pilgerstempel des Tages und laufen weiter. Nach ungefähr einem Kilometer fällt mir auf, dass meine Wasserflasche fehlt. Ich überlege kurz, ob ich einfach eine neue kaufen soll oder zurücklaufen soll, um sie zu suchen. Da heute Feiertag ist, wird es mit dem Neukaufen wohl nichts, außerdem habe ich dann ja auch kein Wasser mehr für den Rest der Etappe. Also geht es zurück. Luca und Aniessa laufen weiter. 

Ich finde meine Flasche in der kleinen Kapelle wieder. Das macht zwei Kilometer plus heute. Nicht schön, aber die Flasche ist es wert. Dann geht es erst einmal eine Zeit lang bergauf durch die Weinberge. Ich probiere Weintrauben, aber sie sind noch recht sauer. Als ich unter den Strommasten hindurchlaufe, knistert es gewaltig und ich hoffe, dass der Strom weiß, wohin er gehört. Natürlich kommen dann wieder kleine Steigungen mit Geröll. Villafranca del Bierzo scheint noch ewig weit weg zu sein, aber irgendwann erreiche ich die Albergue Viñofemita.

Dort sitzt schon meine Bettnachbarin der letzten Nacht: Mizuki aus Japan. Sie freut sich, mich wiederzusehen und nach der Anmeldung landen wir wieder in den Betten nebeneinander. Dann folgt Loreen von Mallorca. Sie sagt, dass ich heute morgen meine Dose vergessen habe und gibt sie mir in die Hand. Es ist eine Dose Kirchererbsen mit Spinat, die ich nicht mehr geschafft hatte. Außerdem stand sie vor der Tür, um die Frischluft hereinzulassen. Die Tür wäre sonst immer wieder zugeschlagen. 

Ich bin total baff. Diese Dose wiegt ein halbes Kilo und sie hat sie die ganzen 24 Kilometer für mich getragen. Sie wusste aber gar nicht, wo ich übernachte und ob sie mich trifft. Das finde ich sensationell und ich freue mich natürlich über so viel Engagement! Damit ist sogar mein Dinner für heute Abend gesichert. Ich weiß nun, an wen ich die kleine Hand, die ich Santiago bekommen habe, weitergeben werde. Loreen freut sich sehr, als sie sie bekommt und ich erzähle ihr das Geheimnis vom Weiterreichen dieses Pilgersymbols. 

Nach dem Füßehochlegen gehen wir zu dritt zum Fluss, hängen die Füße ins kalte Wasser und treffen natürlich weitere Pilger. Von da aus gehen wir zusammen in ein Restaurant am Marktplatz und ruxzuck sind wir zu zwölft an einem Tisch. Jeder kennt einige aus der Gruppe. Mit Japanern, Italienern, Spaniern und Schweizern probieren wir den lokalen Wein und haben einen lustigen Abend zusammen. Wir verabreden uns sogar für eine bestimmte Albergue am Fluß, wenn wir in Arzua sind.

Besser hätte der Tag nicht laufen können, ich falle glücklich ins Bett!

16.08.23: The Rising

Tag 6: Von Villafranca del Bierzo nach O Cebreiro (28,4 km)

Ich wache heute morgen sehr früh auf, weil in meinem Zehnerzimmer schon einige ihre Ruxsäcke packen. Da ich nicht mehr einschlafen kann, stehe ich auch auf und mache mich auf den Weg. Wegen des Feiertages ist mein Fressbeutel ziemlich leer. Ich habe noch zwei Müsliriegel und das restliche Cola-Wasser-Gemisch von gestern. Ich hoffe auf eine Gelegenheit unterwegs etwas kaufen zu können. Es ist kurz vor sechs und ich gehe erst einmal durch den dunklen Ort, in dem glücklicherweise einige Straßenlaternen leuchten. 

Am Ortsrand geht es an einer Landstraße entlang, plötzlich wird es stockdunkel. Meine Kopflampe habe ich nicht mitgenommen, da ich dachte, dass ich sie nicht benötige. Mein Handy möchte ich nicht als Taschenlampe benutzen, weil der Akku dann zu schnell leer wird. Ich brauche das Handy insbesondere auch zum Tracken der Wanderung. Also gehe ich ein Stück zurück. War wohl doch keine gute Idee, so früh loszulaufen. Keine Minute später kommen mir drei Peregrinos mit Taschenlampen entgegen. Zügigen Schrittes laufen sie in Richtung der Dunkelheit. Spontan drehe ich um und schließe mich ihnen an. Es ist eine Brasilianerin, ein Spanier und ein Franzose. Der Franzose spricht etwas Englisch, aber wir staken nur strammen Schrittes durch die Nacht. 

Nach eineinhalb Stunden und sechs Kilometern wird es endlich heller und die Taschenlampen werden nicht mehr benötigt. Nach weiteren zwei Kilometern kommt endlich die erhoffte Bar, in der ich mich versorgen kann. Ich bedanke mich beim Trio, das mir so schön geleuchtet hat und treffe in der Bar die Leute von gestern Abend. Wie schön! Nach einer kurzen Pause mit Kaffee und ColaCau und dem Auffüllen meines Fressbeutels geht es mit den Peregrinos von gestern Abend weiter. Wir laufen zu siebt weiter und unterhalten uns in unterschiedlichen Konstellationen. Wir freuen uns alle, dass wir einander gefunden haben und planen den gemeinsamen Ankunftstag in Santiago. 

Guillermo aus Valencia spricht sehr gut Deutsch, da seine Eltern mit ihm in München gelebt haben und er auf einer Europaschule ein deutsches Abitur gemacht hat. Er ist den Camino schon einmal gegangen und versorgt uns mit wertvollen Tipps. Diesmal läuft er den Camino mit seiner Freundin Tamara. Dann sind da noch Isa aus Paris, Loreen von Mallorca, Rainer aus Trier und Mizuki aus Japan. Ich weiß, dass wir heute an der berühmten Waschmaschine auf dem Camino entlang kommen. Niemand kennt sie, dabei kann man sie sogar googeln und erhält den genauen Standort. Sie muss da schon ewig rumstehen und ist ein Symbol für die Pilger, die mindestens jeden zweiten Tag waschen müssen. Wir einigen uns darauf, dass es ein Monument ist und warten gespannt darauf sie zu sehen. Kurz vor der Waschmaschine treffen wir Yosuke aus Tokio wieder, der sich uns anschließt.

Am Waschmaschinenmonument machen wir ein Gruppenfoto und dann erstellt Tamara eine WhatsApp-Gruppe für uns, damit wir unsere Fotos teilen können und wir besser Verabredungen treffen können. Irgendwann gehe ich ein bisschen schneller, denn wenn es heißer und steiler wird, dann werde ich sowieso langsamer. Ich höre meine Gruppe lange Zeit hinter mir, weil Guillermo, der Spanisch, Deutsch, Englisch und Französisch spricht, immer etwas zu erzählen hat. 

Am Grenzstein zu Galizien warte ich auf alle. Hier müssen wir natürlich wieder ein Gruppenfoto machen. Von da aus geht es nur noch zwei Kilometer bergauf bis zu unserer Albergue. Wir schlafen in einem Fünfzig-Betten-Saal, der nur für Pilgerer vorgesehen ist. Ich treffe dort auf alte Bekannte, die ich drei Tage und zwei Tage zuvor bereits getroffen hatte. Sie winken, rufen meinen Namen und fragen, wie es mir geht. Das macht so viel Spaß, die Mitpilgerer wiederzusehen. O Cebreiro ist ein sehr kleiner Ort mit wenigen Häusern auf 1330 Metern Höhe, zwei Restaurants hat und eine Kirche. Wir haben heute den Peek erreicht. Von nun an werden die Etappen vom Höhenprofil her etwas leichter. 

Wir ruhen erst etwas aus, waschen die Wäsche (die Waschmaschine wird natürlich geteilt) und gehen dann zusammen zum Mittagessen. Abends verabreden wir uns zum Abendessen und zum Sonnenuntergang in einer Bar. Rainer kocht etwas für sich selbst, aber er kommt zum Sonnenuntergang mit Bier für alle um die Ecke. Dafür bekommt er von Loreen die kleine Hand überreicht, die ich ihr gegeben hatte. Wir sehen uns zusammen den Sonnenuntergang an und verabreden uns für morgen früh. Wir wollen zusammen bis nach Triacastela gehen und hoffen, dass wir dort eine Herberge finden, die eine Küche hat. Yosuke will für uns etwas japanisches Kochen, denn er kocht in Tokio in einem Restaurant.

17.08.23: Better Days

Tag 7: Von O Cebreiro nach Triacastela (21km)

Wir starten zu viert um halb sechs. Guillermo rennt mit seinem Handy vor, denn er kennt einen Weg durch den Wald, der uns zum Camino führt. Es ist stockdunkel und ich muss gut Schritt halten, damit ich sehe, wohin ich trete. Tamara und Yoyo folgen uns.

Nach einer Dreiviertelstunde geht es raus auf dem Wald und wir finden die Muschel wieder. Es sind deutlich mehr Peregrinos unterwegs als sonst. Diese Etappe ist nicht ganz so lang und auch nicht so steinig. Der Rücken schmerzt seit einigen Tagen schon nicht mehr, nur die Fußsohlen merken permanent, dass sie in Bewegung sind. Die Blase unterm rechten Fuß hat sich längst gut erholt und die Schulter schmerzt auch nicht mehr. Der Ruxsack kommt mir schon richtig leicht vor. Optimale Wanderbedingungen.

An einem sehr steilen Berg warnt mich jemand vor dem Anstieg, der nun folgt. Ich frage, woher er kommt und er antwortet: „From Texas!‘ Das ist ja mal was! Ich freue mich, mal jemanden in meinem Alter zu treffen und noch dazu aus Texas. Rich kommt aus Dallas/Fort Worth und wir laufen die näxten eineinhalb Stunden zusammen. Er hat Verwandtschaft in Deutschland und reist viel umher. Leider hat er keine Longhorn-Farm in Texas, sondern wohnt in einem Apartment in der Stadt. Er läuft mit der Asche seines verstorbenen Bruders den Camino, so dass sein Bruder quasi immer bei ihm ist. Ich erzähle ihm von meinen beiden Reisen nach Texas im letzten Jahr.

An der näxten Bar muss er wegen seiner vielen Blasen unterm Fuß stoppen. Ich laufe einige Zeit alleine weiter, bis ich meine Gruppe wieder treffe. Mittlerweile hat sich Dani aus Barcelona zu ihr gesellt. Er hat eine deutsche Mutter und spricht daher auch Deutsch. Nun laufe ich mit ihm und er zeigt mir ein Foto und ein Video von seinem Besuch im Westfalenstadion als der BVB 0:4 gegen Bayern verloren hat. Er hat Freunde in Neuss, die mit ihm in der gelben Wand standen. Das fand er sehr beeindruckend. Da er eine andere Herberge als Isa, Mizuki, Rainer und ich gebucht hat, geht er am Zielort in eine andere Richtung. 

Nach dem üblichen Wäschewaschen in der Albergue Aitzenea gehe ich auf Fotopirsch durchs Dorf. Ich treffe viele Peregrinos und sehe auch Ridge aus Texas wieder. Dann lerne ich noch Loraine und Peter aus Melbourne kennen, die viel umherreisen und auch schon zum Machu Picchu gewandert sind. Wir gehen zusammen in eine Bar auf ein Bier und verabreden uns für den Abend. Heute ist nämlich jährlicher Festivaltag in Triacastela. Zum vierten Mal gibt es für alle Peregrinos ein T-Shirt, eine Urkunde, galizische Würstchen, Fleisch und sogar Wein, alles kostenfrei!

In der Kirche gibt es am frühen Abend eine Pilgermesse und ich treffe sogar den Frauenchor, der sich dafür extra schick gemacht hat. Anschließend spielt auf einer großen Bühne eine Band auf und dann eine weitere, die unten beim Publikum unter einem großen Zeltdach eine Art Volks-Rock-Pop a la Leningrad Cowboys spielt. Die Peregrinos und die Dorfbewohner tanzen wie verrückt und anstelle um spätestens zehn Uhr die Augen zu schließen, geht es bis in die Nacht hinein. 

Das bedeutet natürlich nicht, dass es morgen früh nicht um sechs Uhr los geht.

18.08.23: Out In The Street

Tag 8: Von Triacastela nach Sarria (27 km)

Morgens um halb sechs geht es zusammen mit Isa auf die lange Piste nach Sarria. Es gibt zwei Strecken, eine kurze über 21 Kilometer und eine lange über 27 Kilometer. Die lange Strecke geht an einem Kloster vorbei, das laut Guillermo sehr schön sein soll. Da wir ihm blind vertrauen, nehmen wir den langen Weg. Was sind schon sechs Kilometer mehr? Rainer läuft alleine die kurze Strecke, weil er über Sarria hinaus in den näxten Ort gehen möchte. Er will schon einen Tag eher in Santiago ankommen und anschließend weiter nach Finisterre laufen. Wir verabschieden uns von ihm an der Weggabelung. 

Isa hat eine Kopflampe und leuchtet mir, bis es hell wird. Die anderen laufen etwas langsamer. Nach ungefähr zwei Stunden sind wir in Samos, sehen uns das Kloster an und finden eine Frühstücksbar. Da lassen wir uns nieder und innerhalb von wenigen Minuten kommen viele bekannte Peregrinos um die Ecke. Wir sehen Lorraine und Peter aus Melbourne und Rich aus Texas wieder und brechen mit ihnen zusammen auf. Wir haben uns viel zu erzählen und laufen ungefähr gleich schnell. Und weil es so gut passt, bleiben wir den ganzen Tag zusammen. Mittags finden wir einen bunten Garten, in dem wir eine Trinkpause machen können und kurz vor der Ankunft in Sarria gehen wir zusammen Mittagessen. Wir tauschen Fotos und Kontakte aus und laufen dann weiter nach Sarria.

Hier gehe ich mit Isa in die Albergue Monasterio de La Magdalena. Das ist ein Kloster, das auch Herberge für Peregrinos ist. Die anderen übernachten weiter unten in der Stadt. Dann folgt das übliche Waschen und Einkaufen für den näxten Tag. Die Klosterkapelle und den Garten sehe ich mir zusammen mit Isa an. Für abends verabreden wir uns dann mit den anderen aus unserer Gruppe und gehen in ein Restaurant, das Isa aussuchen darf. Denn sie beendet heute ihren Camino. Sie hat ihn in fünf Abschnitte eingeteilt, hat den Camino 2018 in Frankreich gestartet und ist schon über 1300 Kilometer gelaufen. Den letzten Abschnitt hat sie für das Frühjahr 2024 geplant. Das finden wir alle sehr bemerkenswert. 

Diese Klosterherberge ist leider ein bisschen heruntergekommen. An den Fenstern flattern nur Vorhänge umher. Die Fensterscheiben fehlen! Das finden die Motten prima und so flattern sie einfach herein und mir ins Gesicht, während ich versuche einzuschlafen. Schrecklich! Hoffentlich ist die Nacht bald vorbei!!! Zur Zeit sitze auf dem Flur und schreibe diesen Blog. Das Licht hat eine Bewegungssensorschaltung und geht immer wieder aus. Nun springt eine Stabschrecke von hinten auf mich. Ekelhaft! Ich will hier raus!!!

19.08.23: Meeting Across The River

Tag 9: Von Sarria nach Portomarin (22 km)

Um 05:30 klingelt endlich der Wecker! Ich darf aufstehen und dieses scheussliche Etablissement verlassen. Alessandro und Carlotta aus Milano leuchten mir den Weg. Wir laufen zuerst zu dritt und dann gesellen sich immer mehr Italiener zu uns, von denen es hier viele gibt. Ich treffe unterwegs Geonne aus den Niederlanden wieder und Sabrina aus Cincinnati und viele andere.

Es ist etwas regnerisch und wir holen unser Regenzeug hervor. So richtig lohnt es nicht, aber es tröpfelt doch immer mal wieder. Wir sind gespannt auf die einhundert Kilometermarke, die wir heute passieren. Manche freuen sich schon bei Kilometer 100,979 und machen dort Selfies. Ich weiß, dass es einen 100,00 Marker gibt. Also überholen wir die Selfiegruppe und gehen zum „richtigen“ Stein. Natürlich machen wir da dann ein Gruppenfoto.

Heute ist ein merkwürdiger Tag, da nun viele Pilger unterwegs sind, die die mindestens vorgeschrieben einhundert Kilometer bis Santiago laufen, um sich dort die Compostela, die Pilgerurkunde, abzuholen. Sie freuen sich darüber nach Santiago zu kommen, laufen mit Musik und machen ihren Partyweg. Bei den Peregrinos, die weit vorher gestartet sind, ist die Freude darauf, anzukommen, etwas verhalten. Denn wenn man Santiago erreicht hat, ist es vorbei mit der schönen Pilgergemeinschaft und die allermeisten wird man wohl nie wiedersehen. Daher haben wir es gar nicht so eilig, anzukommen und wünschen uns, dass die Pilgerreise nie endet. 

Wir treffen immer wieder auf frische Pilger, die kein Buen Camino wünschen. Also ist klar, dass es ihr erster Tag ist und sie sich vorher nicht gut informiert haben. Naja, ab morgen sagen sie sicher auch Buen Camino beim Vorbeilaufen. Sie tragen einen federleichten Ruxsack, weil sie ihr Gepäck von Unterkunft zu Unterkunft transportieren lassen.

Angekommen in Portomarin sind einige, so wie ich, in der Albergue Ferramenteiro. Wir schlafen in einem Saal mit 130 Leuten zusammen. Vom Bett aus habe ich einen schönen Blick durch viele Betten hindurch. Am Nachmittag legen die meisten ihre Füße hoch und ruhen sich aus! Es ist überall topsauber und gut organisiert. Es gibt sogar eine Küche mit Blick auf den Fluß. 

Im Ort treffe ich zwei Spanier, denen ich vor vier Tagen ein Bier spendiert habe. Sie rufen mich und schwupps habe ich auch ein Bier in der Hand und wir lachen über den komplett anderen Vibe, der seit heute auf dem Camino herrscht. Dann treffe ich noch Carlotta und Alessandro wieder, die mir heute morgen geleuchtet haben. Wir freuen uns darauf, morgen in derselben Herberge zu übernachten. 

Im Schlafsaal treffe ich eine Gruppe deutscher Mädchen, die sich bei mir (in Englisch) über die gewaschenen Socken meiner Bettnachbarin beschweren, die zum Trocknen am Bettrahmen hängen. Ich verrate nicht, dass ich Deutsche bin und sage, dass das der Caminogeruch ist und sie ihn genießen sollten. Ansonsten helfen Nasenklammern. Ich glaube, sie fragen mich nichts mehr.

Heute Abend gehen wir nicht ins Restaurant. Tamara, Guillermo und Mizuki kochen für uns Nudeln mit Tunfisch. Lecker!

20.07.23: Hello Sunshine

Tag 10: Von Portomarin nach Palas de Rei (26 km)

Wir starten heute noch ein bisschen eher als sonst. Um viertel nach sechs treffe ich schon an den ersten Wegweisern auf bekannte Gesichter. Niemand möchte dringend mit den Partypeople laufen. Die meisten von ihnen frühstücken erst einmal in der Herberge, dann haben wir schon die ersten Kilometer hinter uns. Der Plan geht auf, es sind nur wenige Touristenpilger auf dem Camino. 

Nach der ersten kurzen Rast treffe ich Yoyo aus Tokio und wir laufen bis nach Palas de Rei zusammen. Wir passen heute gut mit unseren Geschwindigkeiten zusammen und ich kann ihm mit Schmerzgel für seine Schulter aushelfen. Stundenlang unterhalten wir uns über andere Länder und Kulturen, Reiseerlebnisse und Reisepläne, wie wir in unseren Familien leben und tausend andere Dinge.

Der Weg ist relativ einfach und unspektakulär. Weil es morgens wieder leicht regnet, laufen wir mit unseren Regencapes. Die Landschaft sieht ein bisschen so aus wie im Sauerland. Erst als wir Palas de Rei erreichen, beginnt die Sonne wieder zu scheinen. Leider schaffen wir es nicht rechtzeitig zum Endspiel der Fußballfrauen-WM (Spanien gegen England), da das Spiel in Sydney bereits um zwölf Uhr Mittags beginnt. 

Als ich im Hostel San Marcos ankomme, bekomme ich ein Bett im Zimmer einer spanischen Familie aus Valencia. Ich erkundige mich nach dem Spielstand (1:0 für Spanien) und zeige ihnen mein Shirt des spanischen Nationalteams, das ich nach dem Duschen tragen werde. Das freut sie natürlich! Als ich aus dem Bad komme, ruft mir Fran schon das Endergebnis entgegen: 1:0. Spanien gewinnt die Fußball-WM der Frauen und ich bin passend gekleidet. 

Nach einem kurzen Mittagsschlaf laufe ich ein bisschen durch Palas de Rei. Es ist eine sehr kleine Stadt und es gibt außer einer Kirche und dem Rathaus nicht viel zu sehen. Dafür sehe ich Rich in einer Bar sitzen. Ich setze mich zu ihm und wir unterhalten uns bei einem eiskalten Bier. 

Im Hostel hängt ein Bild, auf dem ein Spruch steht. Ich verstehe nicht alles und nehme meine Übersetzer-App zur Hilfe: Der Tourist verlangt Luxus, der Pilger schätzt die Gastfreundschaft. 

Da ist viel Wahres dran!

21.08.23: Hungry heart

Tag 11: Von Palas de Rei nach Ribadiso de Baixo (26 km)

Die Pulperia Ezequiel in Melide ist heute unser erstes Ziel. Melide ist berühmt für die besten Kraken in ganz Spanien und Guillermo kennt die beste Pulperia dort. Ich bin früh da und kann erst einmal der Köchin über die Schulter schauen. Sie wirft die Kraken aus einem großen Eimer in riesige Kochtöpfe. Ihre Haare haben die gleiche Farbe wie die Kraken. Sie kocht die leckeren Tiere und schneidet sie anschließend klein. Dann kommen die Stücke mit Paprikapulver auf einen Teller. Es ist sehr heiß hinter ihrer Theke und die Arbeit erscheint mir nicht leicht zu sein. Nach und nach füllt sich die Pulperia und die Fangarme liegen schön zerteilt auf den Tellern. Pulpo a la feira: es schmeckt fantastisch!

Dann laufe ich alleine weiter. Kurze Zeit später treffe ich auf Anna Maria aus Milano. Sie arbeitet dort beim Sender Kristal Radio Milano. Die Geschwindigkeit passt und wir unterhalten uns gut, daher laufen wir bis Ribadiso de Baixo zusammen. Wir laufen an den Wegweisersteinen vorbei und sehen ab und zu auf die wenigen noch übrigen Kilometer. Irgendwie freut man sich natürlich auf die Kathedrale in Santiago de Compostela und darauf am Ziel anzukommen, aber irgendwie ist es doch noch viel zu früh dafür. Dann endet ja auch der gemeinsame Weg und diese Vorstellung schieben wir erst einmal beiseite. 

Ich treffe mich heute nachmittag mit meiner Gruppe in derselben Albergue Los Caminantes in Ribadiso de Baixo wieder. Das liegt kurz vor Arzua, wo die meisten ihre Nacht verbringen, aber hier am Fluss können wir unsere Füße in das kalte Wasser tauchen. Anna Maria hat keine Unterkunft vorgebucht und kommt einfach mit in unsere. Da ist auch noch ein Bett frei, wenn auch eins der oberen Etage. Die Betten oben bleiben frei, bis es nicht anders geht. Kein Peregrino möchte seinen Körper mit den geschundenen Füßen über diese Folterstufen nach oben hiefen. Ich war bisher immer ein Fan der oberen Etage, aber auf dem Camino konnte ich bisher zum Glück immer ein Bett unten ergattern.

Die Herberge hat einen großen Garten und in der Hitze trocknet die Wäsche schnell. Es gibt ein schönes Restaurant in diesem kleinen Durchgangsort und das Abendessen ist gesichert.

22.08.23: I‘ll see you in my dreams

Tag 12: Von Ribadiso de Baixo zum Camping San Marcos (36 km bei 36 Grad)

Ich verlasse die Albergue heute morgen als erstes, weil heute meine längste Etappe ansteht. Am Ortsrand wird es nicht nur stockduster sondern auch sehr holperig. Dafür reicht mein Handylicht nicht aus und ich beschließe, auf die näxte Kopflampe zu warten. Die sehe ich schon einer Minute den Berg heraufleuchten. Ich frage, ob ich mitlaufen kann und Jim und Leah haben nichts dagegen. Natürlich frage ich, woher sie kommen. Die Antwort ist: „Texas!“. Das gefällt mir, da war ich schon mal. Wir unterhalten uns, bis sie im näxten Frühstückscafé anhalten. Ich laufe weiter. 

Am folgenden Frühstückscafé trinke ich eine kalte Cola Zero, Rich, Carlotta und Alessandro kommen kurz rein, um mir BUEN CAMINO zu wünschen. Eine halbe Stunde später überhole ich sie wieder und wir verabreden uns für die Kathedrale in Santiago. Heute laufen viele Leute hierher und nicht alle kennen den Pilgergruß schon. Ich laufe einige Kilometer alleine, bis plötzlich von hinten Dani aus Valencia zu mir stößt. Ich habe ihn einige Tage nicht gesehen und freue mich. Er spricht gut deutsch und die Zeit vergeht viel schneller, als wenn man alleine läuft. 

Wir laufen zusammen bis er seine Albergue erreicht. In O Pedrouzo bleiben die meisten für die Nacht. Ich gehe alleine weiter. Mittlerweile ist es zwölf Uhr mittags und die Sonne brennt ganz ordentlich. Ich bin bisher zweiundzwanzig Kilometer gelaufen und nun folgen weitere zwölf. Es wird immer heißer, 36 Grad sind angesagt und die spüre ich mindestens. Es geht zum Glück erst einmal durch einen Wald mit Schatten, dafür bergauf. Dann folgt eine lange Strecke auf heißem Asphalt ohne Schatten. Mir tut alles weh und ich laufe wie ein programmierter Roboter durch die Gegend. Vor lauter Hitze lese ich einen Wegweiser nicht richtig und gerate auf die Calle Complimentario. Das ist meistens ein schöner Umweg, den ich aber heute lieber nicht laufen möchte. Umkehren wäre aber noch blöder, also laufe ich einfach weiter. Am Ende laufe ich einen Kilometer weiter als geplant.

Kurz vorm Campingplatz wird es unerträglich mit der Hitze. Ich mache einen kurzen Stopp und trinke alle Vorräte leer und esse den letzten Müsliriegel. Dann schleppe ich mich bis zum Campingplatz. Dort gibt es eine eiskalte Cola Zero an der Rezeption und ich schaffe die letzten Meter bis zum Bus. Der steht noch da wie vor zwei Wochen und ich freue mich, wieder im Bus schlafen zu können. Die morgige Etappe wird kurz und es geht zur Kathedrale in Santiago de Compostela. Ich habe mir schon den ganzen Tag vorgestellt, wie es sein könnte, wenn man als Peregrino dort ankommt. 

23.08.23: Magic

Tag 13: Vom Camping San Marcos nach Santiago de Compostela (8 km)

Da ich am näxten an Santiago de Compostela übernachte, warte ich auf die anderen am Campingplatzeingang. Bis meine Gruppe eintrudelt, sehe ich Sabrina, Anna Maria und einige andere vorbeilaufen, die mir zuwinken. Luca und Agnese bleiben stehen und warten mit mir auf die anderen, ebenso Carlotta und Alessandro. Endlich ist es so weit: Tamara, Guillermo, Mizuki und Yoyo kommen um die Ecke und wir laufen gemeinsam in Richtung Santiago. Lorena ist noch ein ganzes Stück hinter uns und wir beschließen, am nächsten Frühstückscafé auf sie zu warten. Inzwischen gesellen sich immer mehr bekannte Gesichter zu uns und die Gruppe ist mittlerweile ganz schön groß. 

Als ich im Café sitze, sehe ich Rich wieder und er kommt auf eine Cola zu uns, geht dann aber schon mal weiter. Lorena geht ziemlich schnell und wir laufen nach ihrem Eintreffen zusammen weiter. Am Ortseingang machen wir ein Gruppenfoto vor dem Santiago de Compostela-Schild. Dann geht es weiter in Richtung Kathedrale. Wir können es kaum aushalten, dort anzukommen. Als es soweit ist, laufen bei einigen die Tränen, weil der anstrengende Weg nun endlich geschafft ist, aber auch, weil nun schon die Zeit des Abschieds voneinander immer näher rückt.

Ich bin gestern mit dem Fahrrad nach Santiago gefahren und habe für meine Pilgerfamilie Caminopostkarten gekauft und für jeden ein paar Worte zum Abschied darauf geschrieben. An der Kathedrale verteile ich sie, weil ich nicht genau weiß, ob ich jeden einzelnen noch einmal wiedersehe. Sie freuen sich darüber, sind aber gleichzeitig auch traurig. Von einigen muss ich mich sofort verabschieden, mit einigen anderen verabrede ich mich in einem Sushirestaurant zum Mittagessen.

Natürlich möchten wir auch unsere Compostela bekommen und holen sie im Pilgerbüro ab. Dort werden die Stempel im Pilgerpass überprüft, wir bekommen unsere Compostela auf Spanisch und dann noch eine lateinische Variante. Auf der spanischen Compostela steht, dass ich 315 Kilometer von León nach Santiago de Compostela gelaufen bin. Das hört sich ganz schön weit an.

Anschließend fahre ich ziemlich müde mit einem Taxi zurück zum Campingplatz. Dort mache ich eine Pause, bis ich noch einmal nach Santiago fahre, um mit den anderen ein Bier zu trinken. Wir laufen auch noch etwas durch die Stadt und gehen noch einmal zur Kathedrale, die nun beleuchtet ist. Gegenüber der Kathedrale befindet sich das Rathaus. Unter dem Eingang spielt eine traditionelle spanische Band und viele Pilger tanzen dort. Ich höre meinen Namen und sehe Géonne, Remy, Sabrina und einige andere, die mit mir auf dem Camino unterwegs waren. Die Stimmung ist toll, aber auch hier muss ich mich von einigen verabschieden, die ich nicht wiedersehen werde.

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25.08.23 You never can tell

Se acabó! Es ist vorbei! Die wunderbare Reise nach Santiago de Compostela ist zu Ende. Das ist sehr traurig!

Ich fahre mit dem Fahrrad noch einmal nach Santiago und steige aufs Dach der Kathedrale. Anschließend gehe ich mit Peter, Lorraine und Rich zum Mittagessen und laufe nachher noch ein bisschen durch die Gassen der Stadt.

Am liebsten würde ich die Zeit zurück drehen und wieder von vorne loslaufen. Jeder Tag war anders, alle waren beeindruckend, jeden Tag hatte ich Schmerzen. Aber es gab so viele positive Eindrücke, dass die Schmerzen einfach nicht in den Vordergrund gerieten. Niemand auf dem Camino hat gejammert, alle haben sich ausgeholfen mit Blasenpflastern, Schmerzmitteln und allem Notwendigen. Der Zusammenhalt der Peregrinos aus den unterschiedlichsten Nationen war einzigartig. 

Ich habe so viele liebenswerte Menschen getroffen und so viele faszinierende Gespräche geführt. Meine vielen außergewöhnlichen Eindrücke konnte ich hier nur ansatzweise wiedergeben. Wer den Camino nicht selbst läuft, der kann nur erahnen, wie es dort zugeht. Ich hatte nicht erwartet, dass diese Pilgerreise ein so intensives Erlebnis wird. Ich bin glücklich über jeden Tag, den ich auf dem Camino verbringen konnte!

Nun bleiben die Erinnerungen, die vielen Fotos, der Blog und das wunderbare Gefühl, den Camino gemeinsam geschafft zu haben und Freunde gefunden zu haben. Ich hoffe, dass ich den einen oder anderen wiedersehe, sei es in Dortmund oder anderswo. In meiner Gruppe war ich bei weitem die Älteste, aber es hat niemanden interessiert. Wir haben uns einfach so zusammengerauft. Jeder konnte sein eigenes Tempo laufen, mal war man in derselben Herberge manchmal nicht. Aber wir haben uns immer wieder getroffen und es hat einfach gepasst. Dafür bin ich sehr dankbar! 

Der Camino war körperlich das Herausfordernste, was ich je in meinem Leben gemacht habe, zugleich war es ein unvergleichliches Erlebnis mit so vielen Gleichgesinnten aus vielen verschiedenen Ländern sprechen und gemeinsam laufen zu können. Ich möchte keinen Moment missen, weil ich mich zu jeder Zeit glücklich gefühlt habe. 

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Nachtrag: Die Sache mit dem Tattoo

Bereits zu Hause hatte ich überlegt, ob ich ein neues Tattoo mit einem Camino-Motiv stechen lassen soll, wenn ich in Santiago ankomme. Einen ersten Entwurf hatte für den Fall am Computer schon mal vorbereitet. Nachdem ich den Camino geschafft hatte, wollte ich gerne mein Tattoo in einem Studio in Santiago umsetzen lassen. Leider gab es keines, dass sich auf mein Design einlassen wollte. Sie boten mir nur Standardmotive an und meinten sogar, dass ich nicht mit einem eigenen Design kommen solle, sondern mir eines aus dem Katalog aussuchen könne. Eine absurde Idee!

Ich weiß, dass nicht alle Tattoos mögen, in Japan ist es sogar gänzlich verpönt und muss in der Öffentlichkeit überklebt werden. Ich habe mich auf dem Camino mit Mizuki darüber unterhalten. Man darf es dort zum Beispiel keinesfalls im Schwimmbad oder im Fitnessstudio sehen. In Japan bringt man ein Tattoo immer noch mit kriminellen Organisationen oder auch der japanischen Mafia in Verbindung. Ich wohne zum Glück nicht in Japan und bin froh, dass Tattoos bei uns mittlerweile akzeptiert und durchaus auch beliebt sind. Über die Motive und die Körperregionen lässt sich natürlich trefflich streiten.

In Porto habe ich dann einen Tattoo-Artisten gefunden, der mit mir gemeinsam meinen ersten Entwurf verfeinert hat und sich viel Zeit für das Design genommen hat, bis es mir endlich sehr gefiel. Daher gibt es nun zwei kleine Fußabdrücke von Wanderschuhen mit einer Muschel und der Kathedrale von Santiago de Compostela auf meinem Bein. 🙂